Moise Kean bei der AC Florenz: Kean you feel the beat?
Moise Kean galt einmal als Wunderkind des italienischen Fußballs. Doch die in ihn gesetzten Hoffnungen konnte er lange nicht erfüllen. Bei der AC Florenz dreht der Stürmer jetzt endlich auf – nicht nur auf dem Platz.

Moise Kean sprintet in den Strafraum, löst sich von Jonathan Tah. Er bekommt den Ball von Giacomo Raspadori in den Fuß gespielt, erste Finte, zweite Finte, Abschluss: Tor. Eiskalt zirkelt er den Ball oben ins Eck. Es ist bereits sein zweites Tor an diesem Abend im Westfalenstadion. Noch zur Halbzeit lag die Squadra Azzurra 0:3 zurück, plötzlich sind sie wieder da – dank Kean. Gegen Deutschland zeigt der Stürmer, was er seit Monaten auch in Florenz zeigt: Dass aus dem einstigen Wunderkind vielleicht doch noch ein Star wird.
Aller Anfang ist schwer
Denn das Talent von Moise Kean blieb nicht lange unerkannt. Mit elf Jahren wechselte er vom FC Turin in die Akademie von Juventus. 2016 debütierte der Angreifer in der Serie A – als erster Spieler des Jahrgangs 2000 in einer der Top-fünf-Ligen. Im Spiel gegen Pescara wurde Kean in der 84. Minute für Mario Mandžukić eingewechselt. Schon damals wurde Kean mit Spielern wie Mario Balotelli verglichen. Dies mag im ersten Moment wie ein Kompliment wirken, ist im nächsten aber auch eine Hypothek. Denn dieser Vergleich bringt Erwartungen mit sich, die für einen 16-Jährigen kaum zu tragen sind. Schließlich hatte Balotelli zu diesem Zeitpunkt bereits die Champions League und die Premier League gewonnen, war italienischer Meister – und hatte Deutschland 2012 mit zwei Toren aus dem EM-Turnier geschossen.
Ganz so schwungvoll verlief die Karriere von Kean zunächst nicht: In seiner Debütsaison kam er lediglich auf zwei weitere Kurzeinsätze in der Liga und wurde für die darauffolgende Saison zu Hellas Verona verliehen. Doch auch dort gelang Kean nicht der Durchbruch. In den folgenden Jahren blieb er ein Versprechen, das man nicht aufgeben wollte. Nach seinem Wechsel zu Everton und einer verkorksten Saison in der Premiere League wechselte er zu Paris Saint-Germain. Dort lieferte Kean erstmals ab: In der Saison 2020/21 traf er in 41 Spielen 17-mal, sammelte wertvolle Spielpraxis und Champions-League-Minuten.
Doch ein dauerhafter Durchbruch blieb auch danach aus. Im darauffolgenden Jahr verpflichtete die Alte Dame aus Turin ihr einstiges Wunderkind, das zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 21 Jahre alt war. Bei Juventus Turin konnte sich der Italiener erneut nicht durchsetzen. Kean blieb hinter den Erwartungen – auch, weil ihn immer wieder längere Verletzungspausen ausbremsten. Nach drei Jahren und vielen Negativerfahrungen wagte er 2024 den Weg in die Toskana zur AC Florenz und startet dort seitdem so richtig durch.
Keans Aufblühen in der Toskana
In dieser Saison kommt Moise Kean wettbewerbsübergreifend auf 22 Tore. Mit 17 Treffern in der Liga ist er hinter Bergamos Mateo Retegui (23 Tore) der Spieler mit den meisten Toren in der Serie A. Setzt man die Zahlen in einen lilafarbenen Kontext, wird es fast historisch. Seit 2009 gelang es nur einem Spieler im Trikot der AC Florenz, 17 Treffer oder mehr in einer Saison zu erzielen: Dušan Vlahović. Den Torrekord von Luca Toni (31 Treffer) wird Kean höchstwahrscheinlich nicht mehr einstellen können. Die Bestmarke von Vlahović (21 Tore) aus dem letzten Jahrzehnt könnte er in den verbleibenden sechs Spieltagen jedoch noch einstellen.
Die Treffer des 24-jährigen Italieners können sich sehen lassen. Die meisten erzielt er in Mittelstürmer-Manier: wuchtig, abgezockt und zielstrebig. Einige Tore könnten aber auch in den Uffizien ausgestellt werden – etwa das gegen Genua, als er eine Freistoßflanke von Rolando Mandragora per eingesprungenem Außenristschuss ins Netz beförderte.
Italiens Nationaltrainer Luciano Spalletti ließ sich durch den Treffer gar zu Vergleichen mit den ganz großen Stürmern hinreißen: „Er ist der Flanke gefolgt, hat seinen Körper gedreht und mit der Außenseite seines Fußes getroffen. Das war ein Tor wie von Ibrahimović oder Cristiano Ronaldo." Das Selbstvertrauen, das Leder so reinzuhauen, erarbeitete Kean sich über die letzten Monate. Es ist aber auch das Ergebnis einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Kean und seinem Klubtrainer.
Denn wenn Moise Kean in den letzten Jahren aufs Handy blickte, dürfte ein Name besonders oft zu sehen gewesen sein: Raffaele Palladino. „Ich habe ihn zwei Jahre lang angerufen“, sagte Palladino noch zu seiner Zeit als Trainer in Monza – Kean hatte er trotzdem schon auf dem Zettel. In der Toskana kam es dann endlich zum Treffen der beiden: „Ich habe es versucht, und war dieses Jahr sehr überzeugend.“ Palladino gab ihm das, was ein junger Spieler nun mal braucht: Vertrauen. Er weiß aber auch, wie er seinen Stürmer einzusetzen hat. Kean liebt die Tiefenläufe, das Ausweichen auf die Außenbahnen und die schnellen Umschaltmomente. „Er kann noch wachsen“, sagt der Trainer, „aber er geht gerade einen wichtigen Schritt.“ Vielleicht den ersten richtigen seit langem. Nicht nur auf dem Platz läuft es für den Italiener so gut wie schon lange nicht mehr, auch neben dem Platz dreht er richtig auf.
Kean trifft auch neben dem Platz – den richtigen Ton
Im Dezember veröffentlichte Moise Kean sein erstes Rap-Album: „Chosen“. Der 25-Jährige ist nicht der erste Fußballer, der sich ans Mikrofon wagt, Rafael Leão oder Kevin-Prince Boateng waren vor ihm schon im "Stu". Doch bei Kean wirkt es weniger wie ein Nebenprojekt, mehr wie ein weiterer Ausdruck dessen, wer er ist. Bereits 2023 ließ er mit einem ersten Feature aufhorchen. „Manche Leute sagen, ich denke zu viel über Musik nach“, sagte Kean damals, „aber wenn Gott dir ein Talent gibt – warum solltest du es verstecken?“ Tatsächlich scheint Moise Kean mit Talenten reich gesegnet. So lief er bereits auf mehreren Fashionshows, unter anderem für Designer Domenico Formichetti. Es scheint, als hätte sich der 25-Jährige entschieden, mit keiner seiner Fähigkeiten mehr hinter dem Berg zu halten.