Drei, vier Meter Ordnung

Ich gehe durch die Kälte. Ich friere und denke, was früher in meiner Familie geradezu zwanghaft gesagt wurde, wenn jemand sichtlich fror: Der Säufer und der Hurenbock, der frieret selbst im dicksten Rock. Im Sinne dieser Anklage betrachte ich mich in der aktuellen Lebensphase zwar als vollkommen unschuldig, aber egal. Dicker Pullover, dicke Winterjacke, alles... Der Beitrag Drei, vier Meter Ordnung erschien zuerst auf Buddenbohm & Söhne.

Feb 19, 2025 - 08:08
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Drei, vier Meter Ordnung

Ich gehe durch die Kälte. Ich friere und denke, was früher in meiner Familie geradezu zwanghaft gesagt wurde, wenn jemand sichtlich fror: Der Säufer und der Hurenbock, der frieret selbst im dicksten Rock. Im Sinne dieser Anklage betrachte ich mich in der aktuellen Lebensphase zwar als vollkommen unschuldig, aber egal. Dicker Pullover, dicke Winterjacke, alles egal, nichts hilft mehr. Mir ist kalt, wie immer im Februar. Ich habe keine Energie mehr übrig, um die Winterkälte noch abzuwehren.

Dennoch zum Einkauf gehen. Alles dennoch machen.

Ich gehe am Bücherschrank vorbei, der in einer alten Telefonzelle untergebracht ist und dafür sorgt, dass ich stets weiterhin weiß, wie es sich anfühlt, Telefonzellentüren zu öffnen. Eine Bewegung aus längst vergangenen Jahrzehnten. Ein Mann steht da gerade vor den Büchern, mit dem typisch schräggelegten Kopf des Interessierten. Also warte ich etwas ab, immer weiter frierend, fluchend und die Zeit abschätzend. Wie lange kann der brauchen, bis er da etwas findet, wie lange kann ich darauf warten. Was drängt noch alles an diesem Nachmittag, was muss noch gemacht werden und wann.

Andere brauchen immer länger als ich vor diesen Bücherschränken. Sie sehen sich Ewigkeiten einen Klappentext an, sie blättern versonnen in den Werken, sie lesen sich sogar fest. Sie strahlen manchmal eine Entspanntheit aus, die ich nur vom Hörensagen kenne.

Der Mann vor mir steht da jedenfalls wie angewurzelt. Und wie der steht, er steht und steht. Es dauert enorm lange, und nach einer Weile denke ich, dass es selbst für tiefenentspannte Menschen doch eher ungewöhnlich lange dauert. Ich gehe schließlich etwas näher heran und sehe nach, was er da eigentlich macht. Und warum er sich dabei so oft bis zum untersten Regal bückt, als sei das eine zu absolvierende Turnübung.

Ich sehe, dass er die Bücher, zweihundert oder mehr werden es wohl sein, sortiert. Alphabetisch. Sorgsam, akribisch und mit Muße. Er stellt sie dabei auch gerade hin. Er rückt alles zurecht, richtet die Reihen aus und verschiebt sie dann erneut ein wenig, wieder und wieder.

Selbstverständlich wird aber einer der nächsten Menschen, die dort etwas Lektüre herausgreifen oder dazustellen, alles wieder unordentlich machen. Wenn nicht sogar ein reines Chaos veranstalten, wozu leider viele bei öffentlichen Bücherschränken neigen. Auch so ein abgründiger Ausdruck von Zeiten und Sitten.

Wir haben nun die Wahl, wie wir das finden. Ob wir das vollkommen verrückt finden, was der Mann da macht, in seinem offensichtlich dezent durchgeknallten Ordnungsstreben – oder ob wir eher bemüht mitfühlend daran denken, dass wir doch alle einen Rest Ordnung brauchen in dieser Welt. Und warum nicht genau da. Wenigstens drei, vier Regalmeter mit System und Sinn, das ist nicht nichts. Das sind dann immerhin einige Meter, und also schon ein Stück Welt.

Irgendwo muss man eben anfangen. Wehrt Euch gegen die eskalierende Entropie, leistet Widerstand, wo Ihr nur könnt. Also gleich hier. Vielleicht ist das der Blickwinkel der Wahl.

Na, egal. Jetzt kurz aufräumen, dann zur Arbeit, dort etwas Ordnung in die Zahlen bringen. Was man so macht.

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