Chemische Unterwerfung: "Wenn ihr euch komisch fühlt, geht nicht allein an die frische Luft"
Derzeit häufen sich die Nachrichten von Sexualdelikten in Zusammenhang mit K.-o.-Tropfen. "Chemische Unterwerfung" ist ein riesiges Thema, das durch den Fall Pelicot endlich die nötige Aufmerksamkeit bekommen hat. Doch wie schützt man sich?

Derzeit häufen sich die Nachrichten von Sexualdelikten in Zusammenhang mit K.-o.-Tropfen. "Chemische Unterwerfung" ist ein riesiges Thema, das durch den Fall Pelicot endlich die nötige Aufmerksamkeit bekommen hat. Doch wie schützt man sich?
"K.-o.-Tropfen bei Faschingsparty", "16-Jähriger bekommt K.-o.-Tropfen ins Getränk" oder "Polizei ermittelt wegen K.-o.-Tropfen": Die Berichterstattung ist geprägt von Erzählungen über K.-o.-Tropfen. Und plötzlich taucht auch dieser Begriff überall auf: "chemische Unterwerfung". Gemeint ist eben jene heimliche Verabreichung von Substanzen, um eine andere Person handlungs- und entscheidungsunfähig zu machen – zum Beispiel, um sich sexuell an ihr zu vergehen. Zuerst hörten wohl viele davon während des ungeheuerlichen Vergewaltigungs-Prozesses von Gisèle Pelicot, dessen Ex-Mann die Französin über zehn Jahre lang immer wieder mit Medikamenten betäubt, missbraucht und von Dutzenden Fremden vergewaltigen lassen hatte.
Vergewaltigungsvorwürfe gegen Sohn von Mette-Marit
Erst im Dezember hatte ein Rechercheteam von "STRG_F" zudem ein internationales Vergewaltigungsnetzwerk auf Telegram aufgedeckt. In Dutzenden Gruppen tauschten sich Männer darüber aus, mit welchen Mitteln sie Frauen betäuben und missbrauchen können. "Sie stacheln sich gegenseitig an und bieten ihre Partnerinnen anderen Nutzern zur Vergewaltigung an", berichtete die Tagesschau.
Und auch in der Promi-Berichterstattung tauchen vermehrt Vorwürfe auf, in denen K.-o.-Tropfen eine Rolle spielen. Marius Borg Høiby, Sohn von Norwegens Kronprinzessin Mette-Marit, soll eine Frau im Betäubungsschlaf vergewaltigt und sich dabei gefilmt haben. Die langjährige Freundin Høibys erfuhr erst jetzt davon, als die Polizei sie mit dem Handyvideo konfrontierte.
Etwas Ähnliches erlebte auch die Sängerin und "Dschungelcamp"-Kandidatin Edith Stehfest. Sie wurde eines Tages vom LKA auf die Wache gebeten, um sich ein Video ihrer eigenen Vergewaltigung anschauen zu müssen. „Bis zu diesem Moment wusste ich nichts von dieser Tat, denn ich stand während des Missbrauchs unter K.-o.-Tropfen. Ich kannte den Täter, bin selbst in seine Wohnung gegangen“, erzählt sie bei VOX.
Wenige angezeigte Straftaten
Überall, wo Menschen zusammenkommen, laufen Frauen Gefahr, Opfer chemischer Unterwerfung zu werden, vor allem durch "Drink- oder Needle-Spiking" bei denen Täter ihnen heimlich etwas ins Getränk kippen oder mit dünnen Nadeln in die Arme spritzen. Oft wird dabei die Chemikalie GHB verabreicht, auch bekannt als Liquid Ecstasy. Beliebt als Partydroge, wirkt sie überdosiert binnen Minuten, das Opfer fühlt sich benommen, verliert das Bewusstsein, je nach Dosis über Stunden. Hinterher kann es sich oft an nichts mehr erinnern.
Eine Vergiftung mit Gammahydroxybuttersäure, so der Fachbegriff für das einstige Narkosemittel, kann auch zu Atemlähmungen oder zum Tod führen. Eine häufig genutzte Vorstufe namens Gamma-Butyrolacton (GBL) ist in Deutschland sogar legal; es wird zum Beispiel in der Industrie als Reinigungsmittel gebraucht oder um Medikamente zu produzieren.
"Victim Blaming muss aufhören"
Leider gibt es kaum Zahlen zu Fällen von chemischer Unterwerfung, weil viele Opfer wohl niemals erfahren werden, ob ihnen etwas verabreicht wurde und was danach geschehen ist. Noch dazu ist GHB nur sehr kurz im Körper nachweisbar, etwa sechs bis acht Stunden im Blut und zehn bis 18 Stunden im Urin. Findet keine zeitnahe Untersuchung statt, fehlt also an Beweisen. Und auch die Scham ist nicht zu unterschätzen, wenn Opfern etwa an den Kopf geworfen wird, sie hätten bestimmt nur zu viel getrunken oder konsumiert.
Kein Wunder also, dass in der Partyhauptstadt Berlin 2021 "nur" 22 Straftaten in Zusammenhang mit "Vergewaltigungs-Drogen" erfasst wurden. In Baden-Württemberg gab es 2024 insgesamt 171 polizeilich dokumentierte Fälle mit K.-o.-Tropfen. 2021 waren es 98. Viel mehr Zahlen findet man kaum.
"Dieses Thema gehört in die Öffentlichkeit und das Victim Blaming muss aufhören", sagt Gerlinde Gröger, Vorsitzende der Beratungsstelle Frauen-Notruf Münster gegenüber BRIGITTE. Es ist eine beängstigende Realität, die durch Fälle wie diese aufgezeigt wird. Wie viele Frauen gibt es noch, die im Betäubungsschlaf – unwissentlich – vergewaltigt und missbraucht wurden? Wie viele müssen so etwas noch über sich ergehen lassen? Was muss ganz konkret passieren, damit so etwas aufhört?
PartyGuides im Einsatz gegen "Spiking"
Die ehrenamtlichen PartyGuides der Beratungsstelle Frauen-Notruf Münster sind zweimal im Monat auf in Bars, Clubs und bei großen Events im Einsatz. Sie sprechen gezielt Frauen an, um sie über die Gefahren des Feierns aufzuklären und verteilen sogenannte Spikeys, die über den Flaschenhals gezogen, oder und Capycups, die über Becher gespannt werden können – als Schutz vor K.-o.-Tropfen. "Wir versuchen Frauen möglichst im Vorfeld einer Partynacht anzusprechen, um sie mit Info- und Präventionsmaterial zu versorgen", erzählt Gerlinde Gröger.
Elf Prozent aller Frauen, die sich Hilfe suchend an die Beratungsstelle des Frauen-Notrufs Münster wenden, tun dies aufgrund von Erfahrungen mit K.-o.-Tropfen und Vergewaltigungen – im letzten Jahr waren das rund 40. "Die Dunkelziffer ist noch sehr, sehr viel höher", warnt Gerlinde Gröger. "Wenn wir mit Frauen über das Thema sprechen, erzählt fast jede, dass sie jemanden kennt, dem das auch passiert ist." K.-o.-Tropfen seien leider ein alltägliches Problem.
Fürsorgepflicht im Nachtleben ist groß
"Viele Clubs sind sich ihrer Verantwortung bewusst und arbeiten eng mit uns zusammen, um für Aufklärung und Schutz zu sorgen", sagt Gerlinde Gröger. So startete der Frauen-Notruf Münster etwa die Kampagne "Luisa ist hier", ein Code, mit dem sich Menschen in Not an Bar- und Securitypersonal wenden können, um sofort diskret Hilfe zu erhalten. Mittlerweile wurde "Luisa ist hier" in 100 Städten und Gemeinden adaptiert. Und: Ohne stimmiges Awareness-Konzept und professionelles Personal, das auch zu "Spiking" und bezüglich GHB geschult ist, läuft in vielen Veranstaltungsorten schon lange nichts mehr.
Strenge Kontrollen und Hausverbote für diejenigen, die GHB mitbringen, seien hingegen gar nicht so leicht umzusetzen, verrät ein Hamburger Veranstalter, der anonym bleiben möchte. Drogenkonsum werde in einschlägigen Clubs und auf Festivals für elektronische Musik inoffiziell toleriert. "Viele Clubs haben einen internen Drogen-Notfallplan", gibt er zu. "Das bringt natürlich eine große Fürsorgepflicht mit sich und wir Veranstalter müssen uns überlegen, wie wir sinnvoll damit umgehen", so der Veranstalter.
Nach beinahe jeder Party melden sich Betroffene
Er arbeitet ebenso mit mobilen Awareness-Teams sowie feste Anlaufstellen auf Festivals oder in Clubs – "am besten so niedrigschwellig wie möglich". Zudem würde man das Publikum dazu ermutigen, sich mit den Veranstalter:innen über etwaige Vorfälle auszutauschen. "Dafür sind wir über viele Wege erreichbar, wie etwa App, Handynummer und eine Mailadresse." Nach beinahe jeder Party gibt es Meldungen auf den Kanälen.
Fakt ist, dass sich Verdachtsfälle und Straftaten rund um chemische Unterwerfung durch alle möglichen Schichten und Szenen ziehen – von der Abi-Party übers Taylor-Swift-Konzert bis hin zum Schlagermove oder Karneval. Der Hamburger Veranstalter appelliert deshalb eindringlich auch an Besucher:innen: "Passt auf eure Getränke und die eurer Freund:innen auf, nehmt keine fremden Getränke an und wenn ihr euch komisch fühlt, geht nicht allein an die frische Luft oder aufs Klo – passt aufeinander auf!"
Auf jeder größeren, unübersichtlichen Veranstaltung wie dem Karneval müssen die Orga-Teams seiner Meinung nach unbedingt die Verantwortung dafür übernehmen, dass vorab bestmöglich Aufklärung stattfindet und Menschen für eine Gefahr durch chemische Unterwerfung sensibilisiert werden.
Präventionskampagne: "Betäube mich nicht"
2023 initiierte Caroline Darian, die Tochter von Gisèle Pelicot, eine Präventionskampagne unter dem Hashtag #MendorsPas (Betäube mich nicht), die sich gegen die Praxis der „chemischen Unterwerfung“ richtet. Außerdem gründete sie den Verein #MendorsPas: Stop à la soumission chimique (Stop der chemischen Unterwerfung), der sich aktiv für die Prävention und Aufklärung rund um das Thema einsetzt. Aktuell tourt sie mit ihrem Buch durch Deutschland, um ihre und damit auch die Geschichte ihrer Mutter zu erzählen.
Wir brauchen betroffene Frauen wie sie, die laut sind. "Weil nicht mehr nur die Täter auf den Titelseiten sein dürfen", sagt auch Sängerin Edith Stehfest. "Ich bin laut, weil wir eine Perspektive brauchen, die Opfern Schutz gewährt. Ich bin laut, weil mein Prozess auch deiner sein kann. Lass uns gemeinsam laut sein."