BRIGITTE-Buch der Woche: Wie "Beeren pflücken" mein Verständnis für Liebe bereichert hat
Jede Woche kürt die BRIGITTE-Redaktion aus den aktuellen Neuerscheinungen auf dem deutschen Markt ein Lieblingsbuch. Diesmal hat uns "Beeren pflücken" von Amanda Peters überzeugt.

Jede Woche kürt die BRIGITTE-Redaktion aus den aktuellen Neuerscheinungen auf dem deutschen Markt ein Lieblingsbuch. Diesmal hat uns "Beeren pflücken" von Amanda Peters überzeugt.
An dem Tag, an dem Ruthie verschwand, schienen die Kriebelmücken besonders hungrig zu sein.
Mit diesem Satz beginnt die Geschichte in "Beeren pflücken" und laut der Autorin ergab sich der Rest des Buches, nachdem er ihr eingefallen war. Zum Glück ist er ihr eingefallen: "Beeren pflücken" gehört zu den Büchern, für die ich besonders dankbar bin, dass ich sie lesen konnte.
"Beeren pflücken": Zwei Leben, zwei Lücken
Joe ist sechs Jahre alt, als seine kleine Schwester Ruthie verschwindet. Die Polizei unternimmt nichts, um das Mädchen wiederzufinden. Im Maine der 1960er gelten Kinder wie sie als verzichtbar und des Aufwands nicht wert: Ruthie ist die jüngste Tochter einer Mi'kmaq-Familie aus dem kanadischen Nova Scotia, die jeden Sommer zum Beerenpflücken nach Maine kommt.
Obwohl Ruthie nicht wieder auftaucht, gibt ihre Familie sie niemals verloren. Vor allem Joe glaubt sein Leben lang daran, dass Ruthie zurückkehrt und die Lücke schließt, die ihr Verschwinden aufgemacht hat. Als Joe Jahrzehnte später unheilbar erkrankt und ihm nur noch Wochen zu leben bleiben, blickt er zurück auf all die Jahre, die er ohne seine Schwester verbracht hat, ohne sie jemals aufzugeben.
Als einzige Tochter eines wohlhabenden Paares in Maine führt Norma ein Leben, das sich von der Welt von Joe und seinen Geschwistern kaum stärker unterscheiden könnte: behütet, geregelt, privilegiert. Doch im Gegensatz zu Joe fehlt es Norma an Wärme, an Heimat, an Geschichte und Verwurzelung. Ihre Eltern verbergen etwas vor ihr und Norma spürt, dass sie herausfinden muss, was es ist, um sich jemals ganz zu fühlen.
Tiefe, Emotion und Einblicke in eine wundervolle Kultur
In "Beeren pflücken" bietet uns Amanda Peters keine überraschenden Twists. Keine leichte Zerstreuung und auch keine Hochspannung. Dafür bereichert sie Kapitel für Kapitel unser Verständnis und unsere Vorstellung von Liebe. Von Familie. Von Verlust. Von Unterdrückung. Von Menschsein.
Beim Lesen habe ich die lebendige Landschaft von Nova Scotia vor mir gesehen, die Obstplantagen in Maine, die spärlichen Unterkünfte, die Joe und seinen Geschwistern ein Zuhause boten. Ich habe mit Joe getrauert und gehofft, mich mit Norma einsam gefühlt und verloren. "Beeren pflücken" hat mich mitgenommen und berührt, wie es vielleicht jedes zehnte Buch tut, das ich lese.
Eine Rolle spielt dabei womöglich die Kultur, die Joe als eine der Hauptfiguren repräsentiert: Die Mi'kmaq sind ursprünglich in Nordamerika beheimatet und wurden wie so viele andere Gemeinschaften auf diesem Kontinent von europäischen Siedlern unterdrückt, verdrängt und ausgebeutet. Amanda Peters, selbst teilweise Mi'kmaq, stellt sie als eine emotional wie mental sehr reiche, warme, naturverbundene Kultur dar, von der ich glaube, dass ich von ihr lernen kann. Sowohl von Amanda Peters als auch von den Mi'kmaq möchte ich gerne mehr lesen.
"Beeren pflücken" gehört für mich zu jenen Büchern, die ich von Zeit zu Zeit immer wieder aus dem Regal nehmen werde, um in das eine oder andere Kapitel einzutauchen. Denn ich weiß, dass ich dabei jedes Mal etwas Neues finden kann.