Verordnete „Kriegstüchtigkeit“ und paralysierte Bürger – Warum nehmen wir die Kriegsvorbereitung widerstandslos hin? Teil 2
61 Prozent der Bundesbürger, darunter 81 Prozent der Jugendlichen, äußern Angst vor einem Krieg in Europa. Laut einer aktuellen INSA-Umfrage vom März dieses Jahres hält es die Hälfte der jungen Deutschen zwischen 18 und 39 Jahren gar für „wahrscheinlich, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“. Warum aber bleibt diese allgemeine unterschwelligeWeiterlesen

61 Prozent der Bundesbürger, darunter 81 Prozent der Jugendlichen, äußern Angst vor einem Krieg in Europa. Laut einer aktuellen INSA-Umfrage vom März dieses Jahres hält es die Hälfte der jungen Deutschen zwischen 18 und 39 Jahren gar für „wahrscheinlich, dass Deutschland in den nächsten zehn Jahren Krieg führen wird“. Warum aber bleibt diese allgemeine unterschwellige Unruhe stumm und, im Gegensatz zu den Achtzigerjahren, auf der Handlungsebene weitestgehend folgenlos? Wo bleibt der längst fällige Aufschrei? – Darüber hielt unser Gastautor am 12. April auf dem Kongress „Krieg und Frieden“ der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) in Berlin einen Vortrag, den wir in zwei Teilen dokumentieren. Der erste Teil erschien am 19. April 2025. Von Leo Ensel.
(II) Aktuelle Gründe für die Verdrängung der Kriegsgefahr
Im ersten Kalten Krieg war Deutschland Frontstaat: Beide deutsche Staaten wären das Schlachtfeld der Supermächte gewesen, hier also kein Stein auf dem anderen geblieben, und das war damals allen Menschen in der alten Bundesrepublik und in der DDR bewusst. Heute hat sich die Bedrohung ‚gefühlt‘ rund tausend Kilometer nach Osten verlagert. Der aktuelle Krieg findet (noch?) nicht hier statt, sondern die Völker schlagen – um ein Zitat aus Goethes „Faust“ zu paraphrasieren – „hinten, weit, in der Ukraine“ aufeinander. Dass der Krieg durchaus sehr schnell auch auf NATO-Gebiet übergreifen und unser Land hineinziehen könnte, dass schon ein sogenannter ‚atomarer Schlagabtausch‘ in der Ukraine oder in den östlichen NATO-Staaten auch hier unabsehbare Folgen haben würde, spielt psychologisch so gut wie keine Rolle.
Wir sehen überdies eine starke Generationenpolarität, was die Sensibilität von Kriegsgefahr und atomarer Bedrohung angeht. Die völlig falsche, sachlich überhaupt nicht haltbare ‚Logik‘ lautet hier: Den Jungen das Klima, den Alten der Frieden! Dass auf den wenigen und vergleichsweise mäßig besuchten Friedensdemonstrationen die „Generation 60 plus“ erdrückend dominiert – womit nicht gesagt sei, dass die überwiegende Mehrheit wenigstens dieser Generation sich friedenspolitisch engagiert –, das ist natürlich kein Zufall: Diese Generation wurde ihrerseits von der Kriegsgeneration ihrer Eltern geprägt und ist aufgewachsen mit Atomkriegsängsten, vor allem während der Zeit der sogenannten „Nachrüstung“ in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre.
Ängste, die nun wiederkommen.
Die rüstungspolitische Abstinenz der Klimaschützer
Die junge Klimaschützergeneration dagegen scheint erschreckenderweise auf dem rüstungspolitischen Auge nahezu blind zu sein.
Und dafür gibt es meines Erachtens im Wesentlichen folgende Gründe:
- Die wichtigste Rolle spielt vermutlich ein Phänomen, das man am treffendsten als „fatalen Nebeneffekt der Gorbatschow‘schen Abrüstungspolitik“ bezeichnen könnte. Wer heute um die 35 Jahre alt ist, hatte das unschätzbare Glück, zumindest von Atomkriegsängsten unbehelligt aufwachsen zu können. Mit Abschluss des INF-Vertrages Ende 1987, des Verbots von landgestützten Kurz- und Mittelstreckenraketen, dem Ende des (wie wir heute desillusioniert feststellen müssen: ersten) Kalten Krieges und der Verschrottung von 80 Prozent aller Atomsprengköpfe weltweit schien ja die akute Atomkriegsgefahr in Europa gebannt. Nein: Dass es überhaupt noch mal zu einem ‚atomaren Schlagabtausch‘, gar zu einem globalen Atomkrieg zwischen den Supermächten kommen könne, war vorübergehend in den Bereich des Unvorstellbaren gerückt! Auf diese Weise kamen auch die zeitweise höchst virulenten Atomkriegsängste (vorerst) zum Erliegen. – Kein Wunder, dass die in dieser glücklichen Epoche herangewachsene Generation auch kein Problembewusstsein für die – nach wie vor existierende, lediglich vorübergehend aus dem Blickfeld geratene – Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit entwickelt hat.
- Gleichzeitig stirbt die Kriegsgeneration aus und auch die Generation, die durch den Kalten Krieg und die mit ihm untrennbar verbundenen (Atom-)Kriegsängste geprägt ist, wird zusehends älter. Mit anderen Worten: Die heute junge Generation weiß selbst vom Hörensagen kaum noch, was Krieg tatsächlich bedeutet! Im aktuellen Ukrainekrieg gibt es zudem eine ‚feindübergreifende Allparteienkoalition‘ der Verteidigungsminister, Regierungssprecher und Medien. Russen, Ukrainer, Deutsche und andere achten tunlichst darauf, uns alle mit Bildern von den tötenden und sterbenden Männern an der Front und dem Elend der Kriegsinvaliden zu verschonen. Man will uns einen ‚Krieg ohne Krieger‘, also die Illusion vermitteln, Krieg sei eine klinisch reine Joystickoperation!
- Was den aktuellen Stellvertreterkrieg in der Ukraine betrifft, haben sich vermutlich nicht wenige – das unterstelle ich mal frech – mangels Hintergrundinformationen die vom Medienmainstream täglich in allen Variationen gelieferte „David-versus-Goliath-Erzählung“ kritiklos zu eigen gemacht. Und wer identifiziert sich nicht gerne mit dem ‚Schwachen‘, dem ‚Opfer‘? (Dass die Realität auch hier, wie sonst im Leben, etwas komplizierter ist, fällt dabei durchs Raster.)
- Das jeder jungen Generation eigene Empörungspotenzial schließlich ist in erster Linie durch den zweifellos gebotenen Kampf gegen die Erderwärmung erfolgreich okkupiert. Was noch übrig bleibt, wird von Themen wie „Kampf gegen Rechts“, Gender oder Political Correctness absorbiert.
Ablenkängste, „Cognitive Warfare“, Feindbilder – Die psychologische Aufrüstung
Für die gesamte Gesellschaft gilt, dass eine nahezu gleichgeschaltete (öffentliche und private) Medienlandschaft zudem tagtäglich jede Menge „Ablenkängste“ liefert. Dazu passt – das hat der Psychologe und Amerikanist Jonas Tögel präzise herausgearbeitet –, dass die NATO vor Kurzem den Bereich der „Kognitiven Kriegsführung“ („Cognitive Warfare“) zum offiziellen sechsten Kriegsschauplatz erklärt hat und nun Unsummen in diesen Bereich pumpt. Zahllose Start-ups beziehen hier ein sehr einträgliches Auskommen. Und was früher „Propaganda“, später „Public Relations“ genannt wurde, das lautet nun „Strategische Kommunikation“.
Dazu gehört nicht zuletzt auch die komplette Neuinszenierung des Habitus der heutigen „Kriegstreiber“. Immer noch stellen sich die meisten unter uns ja „Kriegstreiber“ als martialische Gestalten vor, die in Knobelbechern, Stahlhelmen oder Pickelhaube wild um sich brüllen. Den smarten, biederen und eher etwas unbedarft wirkenden Gestalten, die noch bis vorhin in der Ampel-Regierung den Ton angaben, die zudem allesamt um ihr makelloses Menschenrechts- und Öko-Image besorgt sind und sich demnächst auch noch für den klimaneutralen Atomkrieg einsetzen werden, mag man nicht zutrauen, dass sie einen ins Verderben führen könnten … (eher schon unserem unverständlicherweise von seinem Volk zum beliebtesten Politiker gekürten Kriegstüchtigkeitsminister, der – bislang noch? – der Einzige mit diesem Habitus ist).
Die wirksamste Technik der Massenmanipulation aber ist zweifellos immer noch die Konstruktion eines soliden Feindbildes. Es ist ja kein Zufall, dass vor jedem Krieg, den der Westen vorbereitet, prompt ein ‚neuer Hitler‘ entdeckt wird, gegen den es sich dringendst zur Wehr zu setzen gilt: War es 1999 Slobodan Milošević und vier Jahre später Saddam Hussein, so ist es nun Wladimir Putin!
Dazu hat bereits 1956 der britische Physiker und Nobelpreisträger Patrick Blackett das Notwendige gesagt:
„Wenn einmal eine Nation ihre Sicherheit auf eine absolute Waffe stützt, wird es psychologisch notwendig, an einen absoluten Feind zu glauben.“ (Noch präziser müsste man sagen: einen absoluten Feind zu konstruieren!)
Oder in den Worten des Physikers Max Born:
„Um das Gewissen der Menschen zu beruhigen gegenüber militärischen Plänen, die die Tötung von vielen zehn oder gar hundert Millionen Männern, Frauen und Kindern der anderen Seite einkalkulieren – und der eigenen, was aber verdunkelt wird –, muss die andere Seite als ihrem Wesen nach verdorben und aggressiv gedacht werden.“
Die Atombombe – und das wäre die sechste infernalische Regel – zwingt also ihrem Besitzer den absoluten Feind auf!
Noch einmal: All dies geschieht auf dem Hintergrund einer nahezu freiwillig gleichgeschalteten Medienlandschaft, wo von der FAZ bis zur taz zu allen relevanten Themen dieselbe Meinung verbreitet wird, sowie auf dem Hintergrund der kollektiven Erfahrung eines totalen Ausnahmezustandes mit drastischen Einschränkungen der Grundrechte, der die gesamte Gesellschaft ja vor ein paar Jahren erfasste und den diese weitestgehend klag- und widerstandslos über sich ergehen ließ. Eine Erfahrung, auf der sich aufbauen lässt …
(III) Eine neue Friedensbewegung – as soon as possible!
Deutschland, nein: Europa durchlebt gerade die gefährlichste Phase seit dem Ende des ersten Kalten Krieges. Selbst wenn das wechselseitige Töten und Sterben in der Ukraine doch noch in absehbarer Zeit beendet sein sollte, steht unserem Kontinent im ‚besten Falle‘ ein Kalter Krieg 2.0 mit einer zu beiden Seiten streng bewachten, die Ukraine von Norden bis zum Schwarzen Meer durchteilenden neuen ‚Berliner Mauer‘ bevor. Ein höchst fragiler ‚Frozen Conflict‘ also, der jederzeit absichtlich oder versehentlich wieder in einen heißen Krieg, womöglich unter Einbeziehung von Soldaten aus NATO-Staaten, umkippen könnte!
Die neue Regierungskoalition – für die die Worte „Diplomatie“ und „Deeskalation“ nach wie vor tabu sind – hat gerade zusammen mit einer einstmals pazifistischen Partei unter dem saloppen Motto „Whatever it takes“ unvorstellbar „zu große“ Summen von Hunderten Milliarden (zur Erinnerung: Hundertausende Millionen!!) für die Rüstungsindustrie genehmigt und für die Zukunft nichts weniger als ein „Ermächtigungsgesetz in Sachen Aufrüstung“ beschlossen. Im neuen Bundestag ist zudem keine Partei mehr vertreten, die einer Militarisierung kompromisslos entgegentritt. Parallel dazu wird im Hintergrund und weitgehend unsichtbar mit dem seit Beginn des Jahres in Kraft getretenen „Operationsplan Deutschland“ die Infrastruktur unseres gesamten Landes – von der panzerfest renovierten Autobahnbrücke über den öffentlichen und privaten Bunkerbau, inclusive der ABC-Alarm-WarnApp auf dem Handy, bis zur kompletten Umstrukturierung des Gesundheitswesens – auf Kriegsführungsfähigkeit getrimmt.
Bleibt also nur noch der zivile Widerstand ‚von unten‘ in Gestalt einer neuen breiten Friedensbewegung, die heute bestenfalls in zarten Ansätzen existiert.
Dennoch: Passivität und Resignation können wir uns nicht leisten. Der irrwitzigen Aufrüstungswelle, der Stationierung neuer Hyperschallraketen und Marschflugkörper, der Erziehung und Umformierung unserer gesamten Gesellschaft zur „Kriegstüchtigkeit“ – einschließlich der mentalen und seelischen Umprogrammierung ihrer Subjekte, also von uns allen – dürfen wir bei Strafe unseres Unterganges nicht saturiert entgegenschnarchen. Wieder gilt der Spruch aus den Achtzigerjahren: „Der Frieden ist zu wichtig, um ihn nur den Generälen und Politikern zu überlassen!“
Konkret: Wir müssen uns weigern, Feinde zu sein! Es geht darum, den zivilen Ungehorsam und den gewaltfreien Widerstand wieder zu erlernen und einzutrainieren. Es geht, kurz gesagt, darum, nicht nur mit Wolfgang Borchert „NEIN!“ zu sagen, sondern endlich knirschender Sand im Getriebe der Kriegsmaschinerie zu werden!
Wie diese Maßnahmen genau aussehen sollen, darüber muss ein konstruktiver Streit geführt werden, der mittlerweile ja begonnen hat. Vielleicht könnte uns dabei ein Satz von Michail Gorbatschow aus dem Jahre 2017 anspornen:
„Ich erinnere mich gut an die lautstarke Stimme der Friedensbewegung gegen Krieg und Atomwaffen in den 1980er-Jahren. Diese Stimme wurde gehört!“
Titelbild: Krakenimages.com/shutterstock.com