Eintracht Frankfurt: Christian Wück verzichtet auf Nicole Anyomi
Eintracht-Stürmerin Nicole Anyomi ist mit zehn Toren und acht Vorlagen die beste deutsche Scorerin der Bundesliga. DFB-Trainer Wück nominiert sie dennoch nicht fürs Nationalteam. Was soll das?

Nach einer etwas zu lang geratenen Ecke erläuft sich Nicole Anyomi den Ball an der Strafraumkante, umkurvt ihre Bremer Gegenspielerin Saskia Matheis, zieht in die Strafraummitte und schließt wuchtig ab: Tor! Erst zur zweiten Halbzeit eingewechselt, traf die Frankfurter Stürmerin bereits in der 62. Spielminute zum 3:1-Zwischenstand. Anyomis Treffer war ein Tor des Willens und Ausdruck ihrer überragenden Form. Im Auswärtsspiel gegen Werder am vergangenen Sonntag wären weitere Treffer von ihr möglich gewesen, doch die Bremerinnen konnten zweimal in höchster Not klären. Somit blieb es am Ende beim 4:1 für Eintracht Frankfurt.
Um zu verstehen, wie gut Anyomi spielt, lohnt es sich, sie spielen zu sehen. Sie überzeugt mit ihrem schnellen Antritt, ihrer körperlichen Robustheit im Zweikampf, ihrer überragenden Ballkontrolle und ihrem wuchtigen Schuss. Doch schon der Blick auf die blanken Zahlen verrät: Anyomi spielt eine Saison auf Spitzenniveau. Im Schnitt braucht sie in der Bundesliga gerade einmal 55 Minuten pro Torbeteiligung. Damit weist sie auf Spielminuten gerechnet eine bessere Quote auf als die Topscorerin der Liga, Lineth Beerensteyn – die Niederländerin vom VfL Wolfsburg ist die einzige Spielerin in der Liga mit mehr Scorerpunkten als Anyomi.
Wieder keine Nominierung
Umso verwunderlicher war daher die Entscheidung von Bundestrainer Christian Wück Ende März, die Frankfurterin für die Partien gegen Schottland Anfang April erneut nicht zu nominieren. Teil der Erklärung für diese Entscheidung liegt dabei im bevorzugten Spielsystems des Nationaltrainers, denn Wück lässt am liebsten in einem 4-2-3-1 spielen. Das bedeutet für Anyomi als Mittelstürmerin eine verschärfte Konkurrenzsituation. Sie muss mit ihren DFB-Kolleginnen um den einen Platz im Sturmzentrum kämpfen. Wück hat viele Offensivspielerinnen nominiert, mit Lea Schüller und Giovanna Hoffmann jedoch nur zwei reine Mittelstürmerinnen. Die restlichen Angreiferinnen spielen eher hinter der klassischen Neun und/oder auf den Flügeln. Im Gegensatz zu mancher Konkurrentin hat Anyomi diesbezüglich einen Nachteil: Sie hat eine klare Lieblingsposition und ist keine Allrounderin.
Aufgrund seiner bevorzugten Aufstellung mit nur einer Spitze ist es nachvollziehbar, dass der Bundestrainer nur zwei klassische Mittelstürmerinnen nominierte. Neben Schüller und Hoffmann spielt jedoch auch Selina Cerci bei ihrem Verein regelmäßig im Sturmzentrum, von Wück wurde sie bisher aber vor allem in der offensiven Dreierreihe hinter der Neun eingesetzt. Ihr klarer Vorteil gegenüber Anyomi ist ihre positionelle Flexibilität. Schüller ist aktuell die deutsche Nummer eins im Sturmzentrum. In den letzten vier Spielen unter Wück spielte sie dreimal von Beginn an – eine logische Entscheidung. Denn seit Jahren spielt sie beim FC Bayern auf Topniveau und ist eine etablierte Kraft beim DFB. Zusätzlich verfügt sie über eine starke Quote im Nationaldress: 48 Tore in 71 Einsätzen. Als ihr Backup fungiert Giovanna Hoffmann von RB Leipzig. Sie debütierte erst im vergangenen Oktober und ist seitdem fester Bestandteil des DFB-Kaders. Mit zehn Treffern und vier Vorlagen spielte sie bisher eine starke Saison in der Liga. Daher ergibt es Sinn, ihr eine Chance im Nationaltrikot zu geben.
Kein Glück der Tüchtigen
Unverständlich ist allerdings, dass die starken Leistungen der genannten Stürmerinnen belohnt werden, aber Anyomi, immerhin beste deutsche Scorerin der Bundesliga, seit Oktober keinerlei Möglichkeit mehr bekam, sich im Nationaldress zu beweisen. Es ist zwar richtig, dass Anyomi ihre Chancen beim DFB bisher nicht nachhaltig nutzen und nicht an ihre Leistungen im Klub anknüpfen konnte: In 27 Partien stehen nur zwei Tore auf ihrem Trefferkonto. Doch ihre Leistungen im Trikot der Eintracht sind so überragend, dass sie nach fast sechs Monaten ohne Nominierung eine neue Bewährungsprobe verdient hätte.
Noch unverständlicher als die Entscheidung gegen Anyomi ist allerdings die Begründung des Nationaltrainers. Auf der Pressekonferenz zur Verkündung seines Kaders für die Nations-League-Spiele gegen Schottland wurde Wück nach den Gründen für Anyomis Nicht-Berücksichtigung gefragt. „Sie muss die Leistungen im Verein zeigen“, begründet der Bundestrainer seine Entscheidung. Ein absurder Erklärungsversuch angesichts der Tatsache, dass Anyomi genau das seit Monaten konstant macht.
Am Ende eine Systemfrage?
Deutlich glaubwürdiger klingt da, was Wück im Februar dem Kicker zu Anyomis Rolle beim DFB sagte: „In Frankfurt spielen sie mit zwei Spitzen, wir spielen mit einer klassischen Mittelstürmerin.“ Er scheint nicht davon überzeugt, dass Anyomi auch als alleinige Mittelstürmerin funktionieren kann. Diese Bedenken mögen berechtigt sein. Auch dass er anderen Stürmerinnen eine Chance gibt, ist erklärbar. Doch Anyomi so kurz vor dem EM-Turnier erneut nicht zu nominieren, wirft die Frage auf: Gilt unter ihm das Leistungsprinzip?
Das Zeichen an Anyomi ist fatal – ihre seit Saisonbeginn großartige Form bei der Eintracht wird nicht belohnt. Viel schlimmer noch ist, dass Anyomi so tatsächlich Gefahr läuft, im System mit einer Sturmspitze nicht zu funktionieren. Denn die vergangenen Monate wurde ihr vom Bundestrainer die Möglichkeit verweigert, sich an die DFB-Formation und ihre mögliche Rolle darin zu gewöhnen. Eine letzte Chance für Schadensbegrenzung vor der EM im Juli hat Wück: die Länderspiele Anfang Juni.